Seit bestimmt schon 25 Jahren habe ich einen Schatz, einen großen Schatz.
Zu meinem Abitur bekam ich von einer lieben Nachbarin das Buch "Demian" (Hermann Hesse) geschenkt. Ich las es an einem Stück durch und es hat mir sehr gefallen. Er hat eine so angenehme Schreibe, und die Gedanken waren mir auf eine besondere Weise vertraut. Wessen Werk ich da vor mir hatte, davon hatte ich in meinen jungen Jahren noch keine Ahnung.
Es muss im selben Jahr gewesen sein, als meine Mutter mich frug, ob ich mit zu einem Kaffee-Nachmittag kommen möchte. Wir waren von einer Frau eingeladen, die meine Mutter als Taxifahrerin schon häufig zu Arztterminen gefahren hatte. Während dieser Fahrten haben die beiden sich angefreundet. Sie wollte mich auch gern kennenlernen, und so kam ich mit. Irgendwie hatte ich nichts Besseres zu tun.
Ich betrat dieses kleine alte Haus und fühlte mich darin gleich sehr behaglich. Die Frau strahlte etwas Sympathisches, Menschenverstand und Weisheit aus. Auf ihr Aussehen hatte meine Mutter mich vorsichtig vorbereitet. Sie litt unter einer Krankheit, die den gesamten Körper unglaublich aufdunsen lässt. Aber das alles fiel völlig aus meinem Blickfeld heraus, als wir uns unterhielten.
Kurz bevor wir gingen, stand sie auf und holte einen vergilbten Umschlag. Sie sagte: „Das hier möchte ich Dir schenken.“ Ich griff vorsichtig hinein und hielt kleine Privatdrucke von Hermann Hesse in der Hand. Es handelte sich um „Antworten“ (1958), „Trauermarsch“ - Gedenkblatt für einen Jugendkameraden (Montagnola 1957), „Das Lied von Abels Tod“ (ohne Angabe) und „Weihnachtsgaben und Anderes“ (Montagnola 1956). Auch eine Kopie des Gedichts „Stufen“, von der Frau liebevoll mit Kartonpapier hinterlegt, war dabei. Ein Einband zeigte ein eingeprägtes „H“. Bei zwei Büchlein nahmen meine Augen die mit Bleistift geschriebene Unterschrift und ein „herzlich grüßt H.H.“ dieses großartigen Schriftstellers wahr. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Ich frug sie, woher sie diese Drucke hatte. Eine Cousine von ihr war mit Hermann Hesse befreundet (oder eine Freundin von ihr war die Cousine von H. H.?). Dankend nahm ich das Geschenk an.
Seither nehme ich sie alle paar Jahre wieder aus der Schublade, erzähle auch die Geschichte dazu, wie gerade jetzt wieder, als E. ein Referat über das Glück halten sollte und ich ihr eine Kassette(!) mit seiner Originalstimme vorspielen durfte (Ausschnitt aus: „Über das Glück“).
Er schenkt mir seit Jahren - immer zu genau der richtigen Zeit - seine Gedanken. Je nach meiner aktuellen Seelenlage drängte sich mir genau das passende Buch förmlich auf. Mehr als ein Mal hat sich dabei ein inneres Auge geöffnet und ich konnte Dinge sehen, die mir weitergeholfen haben.
Mit diesen Zeilen möchte ich dieses großartigen Schriftstellers gedenken. Ich möchte der Frau gedenken, die mir dieses besondere Geschenk machte: Frau Seiler. Ich freue mich, dieses an unsere Kinder weitergeben zu können, und hoffe, dass auch sie ihn - früher oder später - genießen und ihn in sich aufnehmen werden.