Während "My Funny Valentine" von Chet Baker spielt und sogar mein Sohn wegen des Sounds plötzlich in mein Zimmer kommt, muss ich gerade über die alte Kneipe "Lumpenpuppe" am Maybachufer nachdenken. Es gibt sie schon lange nicht mehr. Die Mischung von Menschen, die man dort angetroffen hat, hielt ich für einzigartig. Es war egal, wie man seine Brötchen verdiente, woher man kam oder wie man drauf war, man kam rein, entdeckte ein bekanntes Gesicht und fühlte sich zuhause. Egal ob Q. immer wieder zum besten gab "Giiib dat Kiiind den Fiiisch nicht, wat macht sie? Giiibt dat Kind den Fisch doch, wat macht dat Kiiind? Dat Kiiind, dat kotzt" oder E., der nach einem Herzinfarkt beruflich umsattelte, Kohlenträger wurde und dem Alkohol abschwor, seinen allabendlichen Kaffee zu einer Schachtel Zigaretten trank, die Leute machten das Ambiente der Kneipe aus. R., die hübsche, große Bedienung mit ihren blonden Locken, konnte sich bei einem Gang durch die Kneipe sämtliche Bestellungen merken ohne Stift und Touchpad und man bekam alles umgehend mit einem Lächeln serviert. Auch U. mit seiner ruhigen norddeutschen Art gehörte dazu, er sagte nicht viel aber hatte eine herrliche Lache. Oder M., sie war schon sehr dem Alkohol zugetan, hatte aber das Herz auf dem rechten Fleck.
Guinness vom Fass schmeckte nur dort gut, weil man sich einfach wohlfühlte und niemanden beeindrucken musste.
Die Unverbindlichkeit ließ einen eintreten in dieses dunkle Zimmer mit Rauchschwaden und dunklem Mobiliar, die nicht enttäuschte Hoffnung auf nette Begegnungen war die Motivation wiederzukehren in dieses Vorzimmer zum Wohnzimmer. Aus manchen Begegnungen wurden Freundschaften, die eine schwere Erkrankung überdauerten, oder auch eine Ehe, deren Nachwuchs bestimmt nicht kotzte.
Das ist nun über 25 Jahre her. Geht man heute in eine Kneipe, läuft irgendeine Sportübertragung auf großen Screens, Raucher und Nichtraucher mischen sich nicht mehr so oft - ein Grund wehmütig zu sein?
Nein, denn heute ist mir aufgefallen, dass etwas anderes an die Stelle getreten ist:
Unser Forum! Wir sitzen nicht nebeneinander (noch nicht?), wir trinken oder rauchen nicht zusammen, doch wir können hier so sein, wie wir sind, tauschen uns aus, bereichern uns gegenseitig oder rollen auch mal die Augen und stöhnen.
Die Unverbindlichkeit lässt uns eintreten, die nicht enttäuschte Hoffnung auf nette Begegnungen wiederkehren.
Ich freue mich, Euch im neuen Vorzimmer zum Wohnzimmer begrüßen zu dürfen.
sid
Di 7 Feb - 0:07:47 Dihydrogenoxid